Die doppelten Dittlis

23. April 2022

Beide sind jung, beide haben Jus studiert, und beide wollen in die Kantonsregierung: Valérie Dittli hat den Sprung in der Waadt bereits geschafft. Ihre Schwester Laura tritt im Herbst in Zug an. Ein Besuch auf dem elterlichen Hof in Oberägeri zeigt: So gleich sind die Bauerntöchter gar nicht.

Auf dem Stubentisch in Oberägeri ZG liegt ein Stapel mit Zeitungsartikeln, zuoberst ein «Tagi»-Bericht vom Ostersamstag. Valérie Dittli, 29, überfliegt ihn und zitiert: «Die aufregendsten Schwestern der Schweizer Politik» – sie hält inne. «Etwas übertrieben, oder, Lau?» Laura, 31, lacht. «Ich finds cool, es ist ein Signal für die Jungen.»

Seit Valérie Dittli am 10. April 2022 für Die Mitte in den Waadtländer Staatsrat gewählt wurde, berichten Medien von Genf bis Graubünden über sie. Eine 29-jährige Zugerin, die noch nie ein politisches Amt ausgeübt hat, im exklusiven Kreis der Regierungsmitglieder – das ist eine Sensation! Hinzu kommt, dass Valérie eine ältere Schwester hat, die im Herbst ebenfalls für Die Mitte in den Regierungsrat möchte, im Kanton Zug. Was dann eine doppelte Sensation wäre.

Am langen Oster-Wochenende heisst es für die Schwestern aber zuerst einmal: ausruhen bei den Eltern auf dem Biobauernhof in Oberägeri. Rundherum stehen die Kirschbäume kurz vor der Blüte, und die sattgrünen Wiesen sind gesprenkelt mit Löwenzahn. Laura lebt nicht weit von hier, in der Wohnung der verstorbenen Grossmutter. Sonntags kommt sie stets zum Znacht. Valérie ist vor acht Jahren nach Lausanne gezogen, um ihr Studium zu beenden. Die Eltern hat sie seit Weihnachten nicht mehr besucht – sie war ununterbrochen mit Wahlkampf beschäftigt.

Auf den Pressebildern der letzten Tage sahen sich Laura und Valérie oft zum Verwechseln ähnlich: langes hellbraunes Haar, breites Lachen, schicker Blazer. Aber wer sie in echt trifft, merkt bald: Die räumliche Entfernung von 160 Kilometern ist nicht das Einzige, was die Schwestern unterscheidet. Laura spielt Klarinette in der Harmoniemusik Oberägeri, spricht überlegt, liebt Schuhe, ist Single, kann fünf auch mal gerade sein lassen und kam in der letzten Saison auf 21 Skitage.Valérie liest gern, spricht viel, liebt Sprachen, hat einen Freund, kann sich manchmal über Kleinigkeiten aufregen und kam in der letzten Saison laut eigenen Angaben auf 21 Fondues.

Gemeinsam ist ihnen heute, dass sie etwas müde sind. Es ist spät geworden gestern. Familie Dittli hat auf den Sieg von Valérie angestossen, auch Bruder Dario, 25, ist aus Zürich angereist. Man sprach über die vergangenen Tage und Wochen, darüber, warum gleich zwei aus einer Familie die Politik aufmischen. Nun – die Antwort liegt genau hier: zwischen Kachelofen, Anker-Bildern und Kirschbränden. An diesem Stubentisch hat die Familie – der Vater ist Biobauer, die Mutter Sozialarbeiterin – früher oft diskutiert, zum Beispiel über den tiefen Milchpreis. «Wir haben hautnah miterlebt, welche Auswirkungen die Milchpreis-Schwankungen auf Bauern wie unseren Vater haben», sagt Valérie. In der Politik könne man solche Dinge ändern. «Und wir packen beide gern an», sagt Laura.

Anpacken haben die Dittlis früh gelernt. Der Hof bot viel Raum für Abenteuer. Aber er bringt auch viel Arbeit: heuen, Kirschen ablesen, Kühe treiben. «Es war nie ein Müssen», sagt Valérie. «Aber wenn du siehst, wie hart die Eltern schuften, dann schaust du nicht einfach zu.» Sie habe immer gern gearbeitet, und es reue sie sehr, wenn sie dem Vater nicht genug helfen könne – wie letzten Sommer, als sie im Anwaltspraktikum war.

Beide Dittli-Schwestern haben Jus studiert. Laura arbeitet seit vier Jahren als Anwältin in Zug. Valérie steht nach ihrem Doktorat an der Universität Lausanne ebenfalls vor der Anwaltsprüfung. Ein Leben als Bäuerin können sich beide nicht vorstellen. «Es ist nicht ausgeschlossen, dass unser Bruder den Hof übernimmt», sagt Laura – Dario studiert an der ETH Zürich Lebensmittelwissenschaften. Kürzlich habe er gewitzelt, er freue sich auf den Moment, wenn er auf die Frage «Was machen deine Schwestern?» antworten könne: «Sie sind Regierungsrätinnen – beide.»

Zwar ist Valérie der Sprung in die Kantonsregierung zuerst gelungen, aber Laura ist vor ihr in die Politik eingestiegen. Mit 22 schafft sie die Wahl in den Zuger Kantonsrat. Seit vier Jahren führt sie die Mitte-Partei (früher CVP) des Kantons – die grösste und damit staatstragende Partei in Zug. Nun möchte sie in die Exekutive: «Meine Kandidatur hat sich abgezeichnet.»

Ganz anders bei der Schwester. Seit 2020 ist Valérie Kantonalpräsidentin der Mitte – in der Waadt nur eine kleine Partei. Dass ausgerechnet sie, eine
Zugerin, die nicht zweisprachig aufgewachsen ist, ein Regierungsamt anstrebt, hat sehr überrascht. «Ich fühle mich in Lausanne zu Hause, darum will ich mich hier engagieren», sagt Valérie, die sich wie Laura vor allem für bildungspolitische Themen einsetzt. Natürlich habe es Kritik gegeben: «zu jung» und «zu unerfahren». «Aber das hat mich eher noch angespornt.»

Drei Monate lang war Valérie Dittli ununterbrochen unterwegs, auf Plätzen und Podien, an Bahnhöfen und Märkten, mit Gipfeli und Flyern. «Ich ging jeden Abend todmüde zu Bett», sagt Valérie, «mais c’était une bonne fatigue» – «es war eine schöne Müdigkeit». Im Gespräch sucht sie immer mal wieder nach einem deutschen Wort, weil ihr nur das französische in den Sinn kommt. Dass es ab und zu heisst, sie spreche ein «français fédéral», lässt sie unbekümmert. «Dafür kenne ich Dialektwörter aus dem Waadtländischen, die nicht einmal andere Welsche verstehen.» Ihrem Siegeszug jedenfalls hat das keinen Abbruch getan.

Am Wahlsonntag reist Laura als Überraschung nach Lausanne. «Ich wollte Vali unterstützen, egal ob sie gewinnt oder nicht.» Um 14.30 Uhr schreibt ihr die Schwester ein SMS: «Lau, ich glaube, ich bin gewählt.» Nur Sekunden später betritt Laura das Wahllokal – den beiden kommen die Tränen. «Jetzt musst du dir dann endlich elegante Schuhe kaufen», habe sie ihrer Schwester gesagt. Valérie besitzt nur Turnschuhe.

Für die Ostertage in Oberägeri reichen Turnschuhe allemal. Aber mit der Bise hat Valérie nicht gerechnet. «Dabei weiss ich doch, dass es in Ober-ägeri immer einen Tschoopen kälter ist als im Unterland», sagt Valérie und dreht mit Laura eine Runde ums Haus. Von der Anhöhe, wo der Hof steht, öffnet sich der Blick weit ins Zugerland. Bald ist es Laura, die von Gemeinde zu Gemeinde pilgert, Gipfeli und Flyer verteilt. Fühlt sie sich vom Sieg ihrer Schwester unter Druck gesetzt? «Überhaupt nicht», sagt sie, «im Gegenteil.» Valéries Wahl habe gezeigt, dass es auch junge Politikerinnen und Politiker in die Regierung schaffen. «Und die eleganten Schuhe hast du ja schon», lacht Valérie.

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